Weinkeller der besonderen Art
Nach einer kurzweiligen Fahrt quer durch die Schweiz, empfangen uns altbekannte und neuinteressante Gesichter am Küchentisch von Marlen und Guido. Wir treffen uns hier im Thurgau, um uns den Weinbaubetrieb von Marlen Karlen und Guido Lenz anzusehen und unsere Fertigkeiten in der Planung von Permakultur-Projekten zu vertiefen. Ein paar von uns sind einen Tag vor Kursbeginn angereist und dürfen im Weinkeller ihr Nachtquartier beziehen. Der Weinkeller ist jedoch kaum als solcher wiederzuerkennen. Marlen und Guido haben ihn kurzerhand in eine stimmungsvolle Höhle mit Teppichen, Matratzen, Fellen und bunten Decken verwandelt. Nur die Holzfässer an der Wand erzählen noch von der ursprünglichen Bestimmung dieses Raumes.
Der gesunde Wein
Nach einem kurzen Bad im nahegelegenen See und einem Frühstück am wohlig warmen Feuer in der Jurte, inklusiv einem spontanen Vortrag von Marlen über Systemtheorie, treffen wir uns in unserer Weinkeller-Höhle zu einer ersten Vorstellungsrunde.
Guido erzählt von seinen Anfangszeiten auf dem Weingut, auf dem sein Grossvater bereits Wein angebaut hat. Vor meinem inneren Auge entsteht ein Bild vom jungen Rebellen, dem gelernten Küfer, der auf viel Widerstand stösst und kompromisslos seiner Überzeugung folgt. «Wein soll gesund sein», das war der Gradmesser für all seine Taten und den Aufbau von Guidos Weinberg. Wenn der Wein gesund sein soll, müssen auch das Land lebendig und die Rebstöcke kraftvoll sein. Neue, pilzwiderstandsfähige Sorten finden ihren Platz im Rebberg. Und Guido kreiert Weine durch Naturgärung. Die Nachbarn stören die «Unkräuter» und das ungepflegt scheinende Land, Guido stören die Pestizid- und Fungizid-Aktionen der Nachbarn, vor denen er seine Reben schützen möchte. Viele Kämpfe werden ausgefochten, oft wird diskutiert. Aber nicht nur das, Guido entscheidet sich auch, mit einem benachbarten Weinbauern an einem Anlass im Dorf Wein auszuschenken und sich mit den Menschen hier zu verbinden. So erzählt Marlen davon, dass sie ein alljährliches Treffen mit den Weinbauern aus der Region ins Leben gerufen haben, an welchem alle Weine der Anwesenden degustiert wurden. Ein zu Beginn etwas beklemmender Anlass wurde so zu einem gerne besuchten Fixpunkt im Jahresablauf.
Schritt für Schritt fanden Guidos Ideen in den letzten zwanzig Jahren Platz in den Köpfen der Nachbarn, von denen sich manche sogar für Experimente mit neuen Sorten begeistern liessen, und es entstanden neue Möglichkeiten, um Maschinen und Werkzeuge auszuleihen und über Erfahrungen auszutauschen. Dabei half sicherlich auch, dass Guido und Marlen mit viel Sorgfalt ihre besonderen Weine produzierten.
Das Leuchten des Rebbergs
Und die Worte von Marlen und Guido finden Bestätigung bei unserer anschliessenden Erkundungstour durch den Rebberg. Der gesamte Hügel scheint in sattes Grün getunkt zu sein, und es ist offensichtlich, dass sich auch die Nachbarschaft entschieden hat, die Gräser und Kräuter ausblühen zu lassen, damit sie im nächsten Jahr ihren Kreislauf von Erwachen, Blühen, Welken und Vergehen weiterführen können.
Guido zeigt uns verschiedene Sorten von Trauben und erklärt uns deren Besonderheiten. Es zählen nicht nur Produktivität und Oechsle, sondern auch die Stimmung, die sich einstellt, wenn in dieser oder jener Sorte gearbeitet wird, und welche Wirkung eine Traubensorte entfalten kann. Für die Arbeit im Rebberg und das geistige Wissen steht Marlen und Guido eine gewaltige Maschine zur Verfügung: die Menschen. Die Menschen, die sich mit ihnen und ihrem Land verbinden, mit ihren fleissigen Händen die Reben versorgen und mit ihren Füssen das Land bearbeiten. Während Guidos Erzählung treten die Techniken der Bewirtschaftung, mit denen sich Guido sicher bestens auskennt und für die er viel Routine und Gespür entwickelt hat, länger je mehr in den Hintergrund, und das soziale System, das hinter dieser Arbeit steckt, entfaltet seine Wichtigkeit. Viele Menschen kommen hierher, um zu helfen, mit anderen Menschen zu arbeiten sich zu entfalten oder sogar ihren Verstorbenen zu gedenken. Dieser Rebberg hat seine eigene Wirkung, und es ist Marlen und Guido gelungen, ihn zum Leuchten zu bringen.
Auch wir wollen unseren Beitrag leisten und machen uns am Nachmittag auf zum Mandala-Rebberg. Es empfängt uns ein verwirrendes Stück Land, auf dem mit Haselstöcken eine Rebpflanzung in Mandala-Form noch vage zu erkennen ist. Die meisten Stöcke sind gebrochen, und die Reben sind wild am Boden weitergewachsen.
Wir machen uns an die Arbeit und entfernen die gebrochenen Stöcke, indem wir uns über den gesamten Weinberg verteilen und kreuz und quer über diesen in sich zusammengesunkenen Rebberg streifen.
Das Grün des Grases, die wohlig wärmende Sonne und die Gruppe umhüllen uns wie eine Glocke und bewegen uns dazu, die weitere Planungsübung direkt hier auf diesem Land weiterzuführen. Alle suchen sich einen angenehmen Platz und versinken in Zukunftsgedanken.
Erst am nächsten Morgen erfahren wir, wie viel Scheitern und Trauer mit diesem Stück Land verknüpft ist. Ja, auch das Scheitern gehört hier dazu.
Das Leuchten des Alters
Und nun? Viel Arbeit ist getan, der Wein ist gesund, der Rebberg leuchtet. Eine neue Zeit bricht an, und die Herstellung des Weines ist in gute Hände übergeben. Aber Guido und Marlen sind noch lange nicht fertig.
Sie haben ein neues Credo für ihren kommenden Lebensabschnitt: «Das Alter zum Leuchten bringen.»
Etwas unbeholfen sammeln wir unsere Gedankenfetzen der Planungsübung des vergangenen Tages und versuchen herauszufinden, welche Funktionen Marlens und Guidos Weingut erfüllen müssten, um diesen Wunsch zu unterstützen. Im Innern sind wir uns alle sehr bewusst, dass dieser Prozess bereits in vollem Gange ist und wir eben zwei Tage in diesem Leuchten verbringen durften. Und als ob uns das Universum auslachen würde, scheint die Sonne so stark hinter Marlen und Guido durchs Fenster im Dachzimmer, dass wir uns nur noch blinzelnd und dankbar verabschieden können.
Ein Erlebnisbericht von Isa Egender, Oktober 22
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